09.Mar 2022

Wer bestimmt über die Schweiz?

Im Februar stimmten wir darüber ab, wie man Tabakprodukte bewerben darf. Die Plakate vom Nein-Komitee bebildert mit einem Cervelat und beschriftet mit einer Hiobsbotschaft: «Heute Tabak! Morgen Cervelat?» Was ist das genau für eine Befürchtung? Im Subtext klingt Fremdbestimmung mit, wer nimmt uns die Werbefreiheit von krebserregenden Produkten weg? Entscheiden nicht wir, was in einer Demokratie was passiert? Aber wer genau ist dieses «wir» in einer Demokratie? Wer kann und darf mitentscheiden? Es geht um die Wurst. von Jeannie Schneider, Partnerin beim Dezentrum

Das demokratische Wir sind die Stimmberechtigten. Sie können über den Verlauf von Gesetzen und Initiativen mitentscheiden. Richtig so, schliesslich sind diese ja auch davon betroffen. Die Stimmberechtigten sind diejenigen, deren Eltern bereits einen roten Pass besassen und diejenigen, die sich durch den restriktiven und langwierigen Prozess der Einbürgerung durchgeschlagen haben. 

Aber bildet dieses demokratische Wir, die tatsächliche Bevölkerung der Schweiz noch ab? Das Wir, das von den politischen Entscheidungen betroffen ist und deren Konsequenzen tragen muss ist deutlich grösser als die Gruppe der Stimmberechtigten. Weil die Welt sich globalisiert und Menschen international mobiler sind, besitzen immer weniger Menschen die Nationalität des Landes, in dem sie leben. In der Schweiz haben 25.5% der Bevölkerung keinen Schweizer Pass. Gleichzeitig werden Menschen immer älter. Inzwischen ist die Hälfte der Stimmberechtigten über 57 Jahre alt. Trotzdem machen minderjährige Schweizer:innen 14% der Bevölkerung aus. 

Das heisst ein beachtlicher Anteil der Menschen, die in der Schweiz leben, dürfen nicht an politischen Entscheidungen teilhaben. Bei tiefer Stimmbeteiligung wird die Gruppe die entscheidet noch kleiner. Das kann zu einem Problem für eine Demokratie werden.  Wenn tatsächlich nur ein geringer Teil der Bevölkerung Entscheidungen trifft, dann verliert das System an Legitimität. Dazu kommt, dass viele Fragen, die uns als Gesellschaften beschäftigen, zeitlich und räumlich das traditionelle Verständnis von einem demokratischen Wir sprengen. 

Digitalisierung oder die Klimakrise sind zwei Beispiele, bei denen klar wird, dass politische Fragen heute nicht nur international, sondern auch intergenerationell betrachtet werden müssen. Während vielleicht für die 60-Jährige Claudia die Androhung eines Cervelat-Verbots das Ende ihrer Schweiz darstellt, ist es für die 16-Jährige Klimaaktivistin Seyda, die sich den desaströsen Konsequenzen von Fleischkonsums bewusst ist, vielleicht die Hoffnung auf das Anfangen einer anderen Zukunft. Heute kann nur Claudia abstimmen. 

Es wird Zeit darüber nachzudenken, ob alle, die am politischen Prozess teilhaben sollten, dies auch können. Jährlich fördert der Prototype Fund von Opendata.ch und der Stiftung Mercator Open-Source-Projekte, welche die Partizipation stärken wollen. In diesem Rahmen entwickelt das Dezentrum das Forum For Inclusion. Das Forum For Inclusion ist eine Webapplikation, auf der nicht-stimmberechtigte Personen ihre Meinung zu nationalen Abstimmungen teilen, also zum Beispiel ob die Werbung von Tabakprodukten stärker reguliert werden sollte. Dies geschieht via anonymer Voicemessage. Die Meinung von Menschen, die nicht abstimmen dürfen, wird viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt während Abstimmungskampagnen. Das Forum will Meinungen, die institutionell ausgeschlossen werden, eine Plattform geben und so auf die Thematik sensibilisieren. 

Mit dem Forum For Inclusion können wir das Problem von Teilhabe also nicht lösen – aber wir können darüber nachdenken – potenziell mit ganz vielen Menschen. Denn Skalierung ist eines der Potentiale von digitalen Technologien. Many-to-many Kommunikation, die Möglichkeit, als Privatperson viele Individuen zu erreichen, erleben wir heute jeden Tag. Das heisst, theoretisch es ist heute so einfach wie nie, viele Menschen mit einem Anliegen zu erreichen. Gleichzeitig wissen wir auch, dass sich auf digitalen Öffentlichkeiten eher Verschwörungserzählungen, anstatt konstruktiver Diskurs finden. Oft sind sie ein Nährboden für Falschinformationen, Filterblasen und andere disruptive Dynamiken. Die gängigen Sozialen Medien kultivieren genau diese polarisierenden Beiträge, weil sie am meisten Interaktionszeit bringen. Unsere Zeit auf der Plattform ist ihre Einnahme. 

Es stellt sich damit die Frage: Kann eine digitale Öffentlichkeit einen respektvollen Umgang ermöglichen, wenn sie keiner Marktlogik folgt? Oder bringen diese virtuellen Welten immer eher etwas Schlechtes hervor? Prototyping ist ein experimenteller Prozess, in dem Ideen möglichst einfach umgesetzt und dafür möglichst schnell wieder geprüft und verbessert werden. Das Forum For Inclusion ist ein Prototyp, es ist ein Experiment: Können einfache Änderungen im Design – keine thread-funktion, keine Likes, nur Voicemessages als Content und Anonymität – einen digitalen Raum entsteht lassen, in dem man sich nicht gegenseitig anschreit, sondern einfach nur zuhört? 

Das Forum For Inclusion will genau das herausfinden. Es möchte ein Ort sein, in dem diejenigen Menschen, die bis jetzt keine Stimme im politischen Diskurs haben, sich äussern können und ihnen auch zugehört wird. Was das Potential von digitaler Partizipation ausmacht, ist aber auch deren grösste Herausforderung – die Anzahl von Personen, die von dem Projekt erreicht werden. Das Forum For Inclusion ist ein Werkzeug, das potentiell viele Menschen auf Fragen rund um Mitbestimmung sensibilisieren könnte – wenn sich dann Menschen darauf mitteilen und andere zuhören. Wenn niemand die Plattform nutzt, entsteht auch wenig Nutzen. Das Forum For Inclusion ist also ein Experiment in doppelter Hinsicht – können wir Menschen mit dem Thema der politischen Teilhabe erreichen und sensibilisieren und welche Bedingungen lassen einen menschenfreundlichen digitalen Raum entstehen? 

Unser Experiment sucht noch Menschen, die uns unterstützen. Genauer gesagt, suchen wir noch Personen, die das Forum For Inclusion nutzen und solche, die uns helfen, das Forum For Inclusion bekannter zu machen. Denn für einen Diskursanstoss braucht es Stimmen, die mitdiskutieren. Es braucht Dich. 

Was denkst Du über die politischen Mitbestimmungsrechte der Schweiz? Wer sollte deiner Meinung nach am politischen Prozess teilhaben dürfen? Wir suchen Menschen, die nicht abstimmen dürfen und uns diese Fragen per Voicemessage beantworten

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